Freitag, 12. Dezember 2014

Spandau. Oder: Berlin auf der Grenze


Noch lebe ich nicht lange genug in Spandau, um irgendetwas tatsächlich im Detail und ganz genau kennen zu können. Eine Einteilung von Menschen fällt sowieso schwer, wenn man es denn überhaupt mit sich selbst vereinbaren kann, eine solche vorzunehmen. Ungleich schwerer ist es, wenn man allzu viele Menschen oder zumindest ihre Lebensumstände gar nicht einzuordnen weiß. Ein wenig bin ich dazu gezwungen, doch im Grunde werde ich nachfolgend freiwillig etwas schreiben über den Stadtteil, der sich in der Lokalzeitung selbst „Havelstadt“ nennt. Einerseits gerne als richtiger Berliner Stadtteil wahrgenommen werden würde, andererseits seine besondere Stellung nicht oft genug betonen kann. Womöglich ein Ort, an dem die Metropole übergeht in das eher Provinzielle. Eben ein Stadtteil auf der Grenze oder gar, wenn man es auf die bundesdeutschen Begebenheiten überträgt, das „Bayern Berlins“. Die vorangegangen Sätze samt den etwas im Dunkel tappenden ersten Worten mögen als Verdeutlichung meines Anliegens hier dienen. Es soll durchaus ein Hauch von Humor mitschwingen. Jedenfalls in dem Sinne, dass die Ausdrücke und Argumente zur Übertreibung geneigt werden. Ein bisschen Verballhornung des Milieu- bzw. Kiezpatrotismus aus Sicht eines eher Außenstehenden, der ich noch, aber auch nicht in Gänze, bin. Deswegen dieses verfrühte Schreiben, just in dem Moment, da das Einleben noch gar nicht zum Abschluss gekommen ist. Ob es so etwas wie ein komplettes Einleben überhaupt geben kann, ob es überhaupt wünschenswert wäre? Dahingehend rege ich zum eigenen Nachdenken an. Überhaupt richten sich all meine Überlegungen an Leute, die der Reflexion (und damit des Schmerzes) willig sind. Die Adressierung einer imaginären Studierendenschaft wird sich an mancher Stelle allzu übermäßig zwischen den Zeilen bewegen. Doch auch oder gerade Nicht-Jünglinge und Nicht-Jung-Bleiben-Wollende lade ich herzlich zur Lektüre ein, sofern sie nicht bereits von eben dieser meiner jugendlichen Arroganz angeekelt, nur noch ihre Köpfe wunderlich hin und her schwenken.

Gegen gewisse Fragen jedenfalls kann man sich nicht wehren, außer man ist dazu befähigt, konsequent ignorant zu sein und das nicht nur scheinbar. Diese seltene Begabung fehlt mir, was es auch nicht weiter zu bedauern gilt. Eine dieser Fragen und sie könnte auch in dem, was damit hintergründig gemeint ist, der vorherigen Red Bull-Frage gleichkommen: Warum Spandau?
Alleine schon diese Art von Reaktion auf meinen bloßen vorübergehenden Wohnort an sich zwingt mich zur Gegenreaktion. Die nachfolgende Argumentation verlangt analog dazu bereits ein ausgefeilteres Kontern. Dabei tauchen vor allem drei Argumente vermehrt auf, selbstredend in schwächerer oder stärkerer Form.
Zunächst ein mühelos von der Hand zu weisender Einwand basierend auf dem Fakt, dass Spandau innerhalb Berlins nicht gerade zentral gelegen ist. Daraus entstünden, so die jeweiligen Redner, unüberwindbare Nachteile. Selbst wenn man Zentrumsnähe aus durchaus plausiblen Gründen wie etwa der spielerischen Erreichbarkeit der Humboldt-Universität als erstrebenswert erachtet, ergibt sich höchstens ein räumliches, aber in der Regel kein gravierendes zeitliches Problem. Erst recht nicht im Vergleich zu eben räumlich zentrumsnäheren Gebieten. Die Fahrzeiten gestalten sich, etwa bis zum Hauptbahnhof, mit dem Regionalverkehr und selbst mit der S-Bahn menschenwürdig. Man möge es selbst nachprüfen. Nach Kreuzberg braucht es zugegebenerweise etwas länger. Aber da nehme ich bereits das zweite Argument vorweg, dessen Beantwortung sich interessanter ausnimmt. In Spandau sei ja „nichts los“, sagt man mir. Ja, entgegne ich voller Gleichgültigkeit. Will man denn, dass „etwas los“ sei? Anders gefragt: Will man denn ständig in Kreuzberg sein? Wer darauf ohne zu Zögern schallend mit „Ja!“ antwortet, den versuche ich gar nicht weiter zu überzeugen. Derjenige hat seinen Platz in der Welt gefunden, was in mir ein wenig Neid, aber der Endgültigkeit wegen auch etwas Misstrauen verursacht. Alle anderen möchte ich hingegen kurz auf den Gewinn einer möglichen Entscheidungsfreiheit hinweisen, die mit dem Sich-Niederlassen in Spandau einhergeht. Man steht plötzlich vor der Wahl, wann man „mittendrin“ sein möchte, in dem Bereich, wo „was los“ ist und wann man in der Ruhe verweilen möchte ohne drohendes Ungemach. Die Ruhe umfasst auch, abends auf die Straße zu gehen, ohne das man dort eben jemanden treffe, der den eigenen schwachen Charakter ins „Mittendrin“ locken könnte. Stattdessen lässt sich beispielsweise der seit drei Tagen zerschellt im Zentrum des Stadtteils herumstehende Sportwagen betrachten oder eben vereinzelte Gestalten, die entnervt ihren Hund an der Leine herumzerren. Man muss allerdings auch nochmals in Untergruppen zerteilen an dieser Stelle. Diejenigen, die es eher zum „Mittendrin-Sein“ zieht, finden sicherlich reizvollere Gegenden in Berlin. Sofern sie denn eine gewisse Ausdauer beim Suchen einer Unterkunft aufweisen oder schlichtweg von der Muse geküsste Glückskinder sind. Für die eher Ruhebedürftigen, und als ein solcher möchte ich mich ganz unverhohlen preisgeben, bleibt Spandau derweil eine ernstzunehmende Option. Außerdem können sie sich dieselbe Entspannung erlauben wie sie auf dem Spandauer Wohnungsmarkt vorzufinden ist. Das möglicherweise im Vergleich eingesparte Mietgeld fließt derweil in diverse Sinnlosigkeiten, zu denen konsequenterweise auch Literatur oder andere Künste zählen. Es klingt fast wie ein spießbürgerlicher oder konservativer Traum, der sogleich durch Argument Nummer drei infrage gestellt wird: „Die Leute wählen da so komisch“. Eine Aussage, die mir unabhängig vom Inhalt erst einmal aufgrund ihrer Merkwürdigkeit oder Originalität gefällt. Es wäre zu einfach, daraufhin zu entgegen, dass dies aus der umgekehrten Perspektive ebenso auf den Aussagenden zutreffen würde, dass er der „Falschwähler“ sei. Nein, so bequem möchte ich mir das Ganze nicht machen. Für eine bestimmte Art der Bequemlichkeit steht es schließlich schon genug, wenn Menschen, die sich selbst als politisch aktiv bezeichnen, solche Aussagen tätigen. Ich strebe doch zumindest ein wenig gen Veränderung, bin also ungewollt auf einmal eben das: politisch aktiv. In dieser Funktion frage ich ohne Umschweife: Was ist das für ein Politik- und Gesellschaftsverständnis bei denen, die nur unter ihresgleichen bleiben wollen? Politik, die nicht auf öffentliches Verändern, nicht auf das Gemeinwesen aus ist - Das ist nach Wortherkunft gar keine Politik. Was ist es dann? Ein Drängen ins Individuelle, in die Welt persönlichen Wunschdenkens. Also doch raus aus dem „Mittendrin“ ins „Ruhige“, das eben rein äußerlich etwas lauter daherkommt? Getarnter Biedermeier? In jedem Fall ein gewisser Realitätsverlust bezogen auf die mögliche Welt außerhalb des eigenen Milieus. Löst der „Kiezschmerz“ gar den weitläufigeren Weltschmerz ab?

Ich muss mich geradezu selbst abhalten davon, in diesem Fatalismus zu versinken. Stattdessen stellt sich doch intensiver denn je der mögliche Sinn eines solchen Beitrags infrage, weshalb ich aus praktischen Beweggründen nun noch eine potentiell erbauende Nutzung der Umgebung „Spandau“ zu konstruieren versuche.
Die Möglichkeit eines Lebens auf der Grenze, nicht nur geographisch, sondern in einem mehr psychischen oder weltanschaulichen Sinne. Dass man überhaupt derartig zu gewissen Unterscheidungen fähig sein könnte, anstatt im Unendlichen zu vergehen, wo nichts mehr tatsächlich außergewöhnlich erscheinen kann ohne jeden Bezugspunkt. In Spandau hingegen existiert die äußere Welt, die andere Welt, nebenher. Wenn man hinausschaut aus seiner Kammer sieht man nicht bloß seinesgleichen oder Menschen, die in das Leben seinesgleichen passen, sondern gerade auch die Menschen, die man verabscheuen kann. Die Menschen, zu denen man innerlich Distanz aufbauen kann. Menschen, auf die man sich beziehen kann, indem man ihre Lebensweise zwar ablehnt, aber als vorhanden anerkennt. Darauf aufbauend gerade erst die eigenen, welchem Themenbereich auch immer zuordenbaren, Vorstellungen schärft. Sich seiner Selbst deutlicher und konturierter bewusst wird. Darin liegt doch gerade eine Bedeutung des Üblichen, Langweiligen, Kleinbürgerlichen. Zum Demonstrieren braucht man gar nicht mehr hinauszufahren, tut man es doch innerlich täglich. Nebenbei lässt sich noch mit etwas Muße am eigens aufgebauten Freund-Feind-Schema stellenweise rütteln, wenn es plötzlich menschelt zwischen einem selbst und den „einfachen“ Leuten, welche eigentlich die „Anderen“ sind. Durchaus bestünde manchmal die Gefahr, sich in diesem Pragmatismus zu verlieren. Hier schafft das Bild der Grenze Abhilfe, bietet es doch die Möglichkeit wieder in ein anderes Gebilde überzuwechseln, mitunter fließend. Wenn jemand darüber witzelt, dass man Student sei, weil in seiner sozialen Umgebung so etwas nicht vorkommt, bleibt neben dem Innehalten und Erkennen der eigenen besonderen Stellung auch das situative Überwechseln zu seinesgleichen. Es mag durchaus merkwürdig anmuten, gewissermaßen in beiden Welten nur vorübergehend und nie dauerhaft zu sein. Möglicherweise unterscheidet man sich in diesem Punkt aber auch gerade von einer Art der Zeitlosigkeit, bei der freilich nicht mehr vonstatten geht als ein einziges Schweben im Raume. Ohne, dass man auch nur die Richtungen kennen würde, die man von Zeit zu Zeit einschlägt.

Um ein einziges Mal versöhnlich und nicht geheimnisumwoben zu wirken: Lange lässt sich kein Zustand aushalten. Egal wie abwechslungsreich er daherkommt und wie wenig man ihn als solchen erkennt. Nach gewissen Zeitspannen braucht es Veränderungen gegen den Wahnsinn. Der herrscht in ganz Berlin. Der macht die Stadt gewissermaßen überhaupt erst interessant genug, um über sie nachzudenken. Schlagartig wird mir bewusst, wie sehr ich „Zugezogener“ noch am Anfang stehe von alldem. Wie viel weiteres Nicht-Verstehen nötig sein wird, um nur irgendetwas zu begreifen! Was wird es bringen? Möglicherweise nichts. Ich werde mehr obskure Annäherungen vollziehen müssen für die Möglichkeit einer aufgeklärteren Anonymität innerhalb Berlins.

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