Sonntag, 25. Januar 2015

In eigenen Worten – Michel Houellebecq: „Unterwerfung“

Es ist eine krude Vorstellung von Realismus, welche die aktuelle Berichterstattung zu Michel Houellebecqs jüngst erschienenem Roman „Unterwerfung“ prägt. Eine merkwürdige Vorstellung von Literatur, eine unhaltbare. Fast wirkt es so, als hätten einige Berichterstatter die Rolle des Literaten missinterpretiert als die eines Hellsehers, der er gewissermaßen auch ist auf menschlicher Ebene, auf Gefühlsebene, aber ganz sicher nicht in Bezug auf eine tatsächlich-physische Welt der Zukunft. Fraglich bleibt obendrein, wie viele derjenigen, die Houellebecq beziehungsweise seinen Roman „islamophob“ schimpfen, ihn überhaupt gelesen haben. Überhaupt diese Annahme von Deckungsgleichheit zwischen literarischem Ich und der tatsächlichen Einstellung des Schreibenden. Ein Mensch, der Teilen der Redaktion von „Charlie Hebdo“ nahestand und -steht wird kaum ein Islamhasser sein. Aber wahrscheinlich ein Amoralist, dem allzu vieles allzu egal ist und den allzu vieles doch allzu sehr quält. Der deswegen möglicherweise kein Vorbild ist, keines sein will. Einen solchen Menschen und seine Werke darf man nicht reduzieren auf rein inhaltliche Ausschnitte (Erst passiert das eine, dann das andere und dann wieder etwas et cetera). Man muss ihn sich schon anhören. In seinen eigenen Worten. Vor allem sollte man nachdenken, bevor man eine gewisse Ablehnung formuliert, über die sich ein Autor oftmals sogar freut im Gegensatz zu moralisch unfehlbaren Journalisten.

Zitate aus „Unterwerfung“ in chronologischer Reihenfolge:
„Allein die Literatur erlaubt uns, mit dem Geist eines Toten in Verbindung zu treten, auf direkte, umfassendere und tiefere Weise, als das selbst in einem Gespräch mit einem Freund möglich wäre – denn so tief und dauerhaft eine Freundschaft sein mag, niemals liefert man sich in einem Gespräch so restlos aus, wie man sich einem leeren Blatt ausliefert, das sich an einen unbekannten Empfänger richtet. Natürlich sind, wenn es um Literatur geht, die Schönheit des Stils, die Musikalität der Sätze von Wichtigkeit. Die Tiefe und die Originalität der Gedanken des Autors sind nicht unwesentlich; aber ein Autor ist zuvorderst ein Mensch, der in seinen Büchern gegenwärtig ist; ob er gut schreibt oder schlecht, ist dabei zweitrangig, die Hauptsache ist, dass er schreibt und wirklich in seinen Büchern präsent ist.“

„Nicht deprimiert, nein, irgendwie schlimmer, du hattest immer so eine Art von anormaler Ehrlichkeit, eine Unfähigkeit, all die Kompromisse einzugehen, die den Leuten letztlich erlauben zu leben.“

„Nach Myriams Fortgang blieb ich über eine Woche lang alleine. Das erste Mal seit meiner Berufung fühlte ich mich nicht einmal imstande, meine Mittwochskurse zu leiten. Die geistigen Höhepunkte meines Lebens waren die Niederschrift meiner Dissertation und die Veröffentlichung meines Buchs gewesen; all das lag mehr als zehn Jahre zurück. Geistige Höhepunkte? Höhepunkte überhaupt? Jedenfalls fühlte ich damals so etwas wie eine Existenzberechtigung. Seitdem hatte ich nur kurze Beiträge für das Journal des dix-neuvièmistes und, seltener, für das Magazine littéraire verfasst, wenn etwas anlag, das meinem Fachgebiet entsprach. Meine Beiträge waren klar, bissig, brillant, im Allgemeinen erfuhren sie Wetschätzung, zumal ich stets pünktlich ablieferte. Aber genügte das als Existenzberechtigung? Inwiefern braucht eine Existenz eine Berechtigung? Sämtliche Tiere und der überwältigende Großteil der Menschen existieren, ohne jemals das geringste Bedürfnis nach eine Berechtigung zu verspüren. Sie leben, weil sie leben, und basta, das ist ihre Denkweise, und sie sterben, weil sie sterben, nehme ich weiter an, womit die Analyse in ihren Augen abgeschlossen ist.“

„Mir lag auf der Zunge, Lempereur zu fragen: 'Sind Sie eher Katholik, eher Faschist oder eine Mischung aus beidem?', aber ich hielt mich zurück, ich hatte lange nichts mit Rechtsintellektuellen zu tun gehabt und wusste nicht mehr, wie man sie anpacken musste.“

„Während die reichen Araberinnen tagsüber die undurchdringliche schwarze Burka trugen, verwandelten sie sich abends in schillernde Paradiesvögel: Mieder, transparente Bhs, Strings mit bunter Spitze und Schmucksteinen, also genau das Gegenteil der westlichen Frauen, die sich tagsüber sexy und elegant kleideten, weil ihr sozialer Status auf dem Spiel stand, abends aber zusammensanken, in unförmige Freizeitklamotten stiegen und beim Gedanken an Verführungsspielchen müde abwinkten.“

„Irgendwann hatte ich keine Lust mehr und zappte mich durch Doku-Soaps über Fettleibige, bevor ich endlich ganz ausschaltete. Dass Politik in meinem Leben eine Rolle spielen könnte, verwirrte und ekelte mich ein bisschen.“

„Überhaupt kannte ich wenig von Frankreich. Nach meiner Kindheit und Jugend in Maisons-Lafitte, der bürgerlichen Vorstadt par exellence, war ich nach Paris gegangen und immer dort geblieben. Nie hatte ich dieses Land bereist, dessen Bürger ich war, wenn auch bislang eher in der Theorie. Ich hatte es allerdings schon einmal vorgehabt, wie der VW Touareg bewies, den ich zusammen mit den Wanderschuhen gekauft hatte.“

„Manche Sonntage konnte ich glücklicherweise auch einfach durchvögeln – meistens mit Myriam. Mein Leben wäre öde und freudlos gewesen, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit mit ihr gevögelt hätte.“

„Die Kassiererin entdeckte ich in einer Blutlache auf dem Boden, sie hatte die Arme, um sich zu schützen, sinnlos vor die Brust gepresst. Totale Stille. Ich ging zu den Zapfsäulen, aber sie funktionierten nicht, vermutlich wurden sie von der Kasse aus gesteuert. Ich lief zurück, steig widerwillig über die Leiche, entdeckte aber nichts, was dazu dienen konnte, die Pumpen wieder in Gang zu bringen. Nach kurzem Zögern nahm ich mir ein Thunfisch-Sandwich mit Salat, ein alkoholfreies Bier und den Michelin-Hotelführer aus dem Regal.“

„'Wissen Sie etwas über die Hintergründe dieser Aktionen?' 'Es ist genau so, wie Sie es sich denken.' 'Die Identitären?' 'Zum einen, ja. Auf der andere Seite junge Dschihadisten. Übrigens stehen sich damit zwei zahlenmäßig in etwa gleich starke Gruppen gegenüber.' 'Und sie glauben, dass die mit der Bruderschaft der Muslime in Verbindung stehen?' 'Nein.' Er schüttelte entschieden den Kopf.“

„Jetzt ist es an der Zeit für eine gütliche Einigung mit dem Islam, Zeit für eine Allianz, wie ich meine.“

„Was mochte wohl jemand denken, der sein ganzes Leben lang die verborgenen Zusammenhänge im Hintergrund erforscht hat? Wahrscheinlich nichts. Und ich vermutete, dass er nicht einmal zur Wahl ginge; er wusste einfach zu viel.“

„Die Betrachtung von Frauenärschen, dieser kleine träumerische Trost, war ebenfalls unmöglich geworden. Es war also zweifelsohne eine Veränderung im Gange, eine objektive Umwälzung hatte eingesetzt. Zwar ließ auch mehrstündiges Zappen durch die Kabelkanäle keine Rückschlüsse auf weitere Umbrüche zu, aber die Erotiksendungen im Fernsehen waren ja schließlich schon seit Langem aus der Mode.“

„Nur in sehr seltenen Fällen habe ich Escort-Dienste in Anspruch genommen, meistens in den Sommermonaten, um gewissermaßen den Übergang von einer Studentin zur nächsten zu überbrücken; alles in allem wurde ich zufriedengestellt. Eine kurte Internetrecherche zeigte mir, dass die neue islamische Regierung deren Betrieb in keiner Weise beeinträchtigt hatte.“
„Trotzdem, das spürte ich genau, näherte ich mich dem Selbstmord, ohne Verzweiflung oder auch nur eine besondere Traurigkeit zum empfinden, sondern einfach nur deshalb, weil 'die Gesamtsumme der Funktionen, die dem Tod widerstehen', wie Bichat es ausrückt, langsam kleiner wurde. Der einfache Wille zu leben reichte mir offenbar nicht mehr aus, um der Gesamtheit der Schmerzen und Unannehmlichkeiten zu widerstehen, die das Leben eines durchschnittlichen Westeuropäers begleiten. Ich war unfähig für mich selbst zu leben, und für wen sonst hätte ich leben sollen? Die Menschheit interessierte mich nicht, sie widerte mich sogar an. Ich betrachtete die Menschen keineswegs als meine Brüder, und ich tat es umso weniger, wenn ich einen kleineren Ausschnitt der Menschheit in Augenschein nahm, so zum Beispiel denjenigen, der aus meinen Landsleuten oder meinen ehemaligen Kollegen bestand. Dennoch musste ich wohl anerkennen, dass diese Menschen mir unangenehm ähnelten, dass sie meinesgleichen waren, auch wenn es gerade diese Ähnlichkeit war, die mich dazu veranlasste, sie zu meiden.“

„Hier greift das berühmte Theorem des endlos tippenden Affen: Wie lange müsste ein Schimpanse zufällig auf einer Schreibmaschine herumtippen, um die Werke William Shakespeares entstehen zu lassen? Wie lange würde ein blinder Zufall benötigen, um das Universum wieder entstehen zu lassen? Ganz sicher deutlich mehr als fünfzehn Milliarden Jahre!“

„Der Islam ist die einzige Religion, die in der Liturgie die Verwendung von Übersetzungen verboten hat; weil der Koran vollständig aus Rhythmen, Reimen, Refrains, Assonanzen besteht. Er breuht auf der Idee, der Grundidee der Poesie, einer Einheit von Klang und Sinn, die es ermöglicht die Welt zu erzählen.“

„[A]ber der ganze Artikel war ein einziger Aufruf an seine früheren traditionalistischen und identitären Freunde. Es sei tragisch, bekundete er leidenschaftlich, dass eine irrationale Feindseligkeit gegenüber dem Islam sie daran hindere, die folgende Gewissheit nicht zu erkennen: Sie seien in den wesentlichen Punkten im völligen Einklang mit den Moslems. Was die Ablehnung von Atheismus und Humanismus angehe, die notwendige Unterwerfung der Frau und die Rückkehr des Patriachats: Ihr Kampf sei in jeder Hinsicht derselbe. Und dieser Kampf, der für den Beginn der neuen Etappe einer organischen Kultur notwendig sei, sei heute nicht mehr im Namen des Christentums zu führen; es sei der Islam, die jüngere und wahrhaftigere Schwesterreligion“

„[W]omit Huysmans auch in diesem Punkt allen anderen Menschen glich, denen ihr eigener Tod im Allgemeinen mehr oder minder gleichgültig ist; ihre einzige wirkliche Sorge besteht darin, der körperlichen Qual so weit wie möglich zu entkommen.“

„[I]m Moment fühlte ich mich nicht dazu in der Lage, auch nur einen einzigen der Umschläge zu öffnen; ich war zwei Wochen lang gewissermaßen in Sphären des Ideals befördert worden, hatte auf meinem bescheidenen Niveau etwas erschaffen; jetzt wieder meinen Status als gewöhnliches verwaltungstechnisches Subjekt anzunehmen, das erschien mir etwas hart.“