Noch lebe ich nicht lange genug in Spandau, um irgendetwas
tatsächlich im Detail und ganz genau kennen zu können. Eine
Einteilung von Menschen fällt sowieso schwer, wenn man es denn
überhaupt mit sich selbst vereinbaren kann, eine solche vorzunehmen.
Ungleich schwerer ist es, wenn man allzu viele Menschen oder
zumindest ihre Lebensumstände gar nicht einzuordnen weiß. Ein wenig
bin ich dazu gezwungen, doch im Grunde werde ich nachfolgend
freiwillig etwas schreiben über den Stadtteil, der sich in der
Lokalzeitung selbst „Havelstadt“ nennt. Einerseits gerne als
richtiger Berliner Stadtteil wahrgenommen werden würde, andererseits
seine besondere Stellung nicht oft genug betonen kann. Womöglich ein
Ort, an dem die Metropole übergeht in das eher Provinzielle. Eben
ein Stadtteil auf der Grenze oder gar, wenn man es auf die
bundesdeutschen Begebenheiten überträgt, das „Bayern Berlins“.
Die vorangegangen Sätze samt den etwas im Dunkel tappenden ersten
Worten mögen als Verdeutlichung meines Anliegens hier dienen. Es
soll durchaus ein Hauch von Humor mitschwingen. Jedenfalls in dem
Sinne, dass die Ausdrücke und Argumente zur Übertreibung geneigt
werden. Ein bisschen Verballhornung des Milieu- bzw. Kiezpatrotismus
aus Sicht eines eher Außenstehenden, der ich noch, aber auch nicht
in Gänze, bin. Deswegen dieses verfrühte Schreiben, just in dem
Moment, da das Einleben noch gar nicht zum Abschluss gekommen ist. Ob
es so etwas wie ein komplettes Einleben überhaupt geben kann, ob es
überhaupt wünschenswert wäre? Dahingehend rege ich zum eigenen
Nachdenken an. Überhaupt richten sich all meine Überlegungen an
Leute, die der Reflexion (und damit des Schmerzes) willig sind. Die
Adressierung einer imaginären Studierendenschaft wird sich an
mancher Stelle allzu übermäßig zwischen den Zeilen bewegen. Doch
auch oder gerade Nicht-Jünglinge und Nicht-Jung-Bleiben-Wollende
lade ich herzlich zur Lektüre ein, sofern sie nicht bereits von eben
dieser meiner jugendlichen Arroganz angeekelt, nur noch ihre Köpfe
wunderlich hin und her schwenken.
Gegen gewisse Fragen jedenfalls kann man sich nicht wehren, außer
man ist dazu befähigt, konsequent ignorant zu sein und das nicht nur
scheinbar. Diese seltene Begabung fehlt mir, was es auch nicht weiter
zu bedauern gilt. Eine dieser Fragen und sie könnte auch in dem, was
damit hintergründig gemeint ist, der vorherigen Red Bull-Frage
gleichkommen: Warum Spandau?
Alleine schon diese Art von Reaktion auf meinen bloßen
vorübergehenden Wohnort an sich zwingt mich zur Gegenreaktion. Die
nachfolgende Argumentation verlangt analog dazu bereits ein
ausgefeilteres Kontern. Dabei tauchen vor allem drei Argumente
vermehrt auf, selbstredend in schwächerer oder stärkerer Form.
Zunächst ein mühelos von der Hand zu weisender Einwand basierend
auf dem Fakt, dass Spandau innerhalb Berlins nicht gerade zentral
gelegen ist. Daraus entstünden, so die jeweiligen Redner,
unüberwindbare Nachteile. Selbst wenn man Zentrumsnähe aus durchaus
plausiblen Gründen wie etwa der spielerischen Erreichbarkeit der
Humboldt-Universität als erstrebenswert erachtet, ergibt sich
höchstens ein räumliches, aber in der Regel kein gravierendes
zeitliches Problem. Erst recht nicht im Vergleich zu eben räumlich
zentrumsnäheren Gebieten. Die Fahrzeiten gestalten sich, etwa bis
zum Hauptbahnhof, mit dem Regionalverkehr und selbst mit der S-Bahn
menschenwürdig. Man möge es selbst nachprüfen. Nach Kreuzberg
braucht es zugegebenerweise etwas länger. Aber da nehme ich bereits
das zweite Argument vorweg, dessen Beantwortung sich interessanter
ausnimmt. In Spandau sei ja „nichts los“, sagt man mir. Ja,
entgegne ich voller Gleichgültigkeit. Will man denn, dass „etwas
los“ sei? Anders gefragt: Will man denn ständig in Kreuzberg sein?
Wer darauf ohne zu Zögern schallend mit „Ja!“ antwortet, den
versuche ich gar nicht weiter zu überzeugen. Derjenige hat seinen
Platz in der Welt gefunden, was in mir ein wenig Neid, aber der
Endgültigkeit wegen auch etwas Misstrauen verursacht. Alle anderen
möchte ich hingegen kurz auf den Gewinn einer möglichen
Entscheidungsfreiheit hinweisen, die mit dem Sich-Niederlassen in
Spandau einhergeht. Man steht plötzlich vor der Wahl, wann man
„mittendrin“ sein möchte, in dem Bereich, wo „was los“ ist
und wann man in der Ruhe verweilen möchte ohne drohendes Ungemach.
Die Ruhe umfasst auch, abends auf die Straße zu gehen, ohne das man
dort eben jemanden treffe, der den eigenen schwachen Charakter ins
„Mittendrin“ locken könnte. Stattdessen lässt sich
beispielsweise der seit drei Tagen zerschellt im Zentrum des
Stadtteils herumstehende Sportwagen betrachten oder eben vereinzelte
Gestalten, die entnervt ihren Hund an der Leine herumzerren. Man muss
allerdings auch nochmals in Untergruppen zerteilen an dieser Stelle.
Diejenigen, die es eher zum „Mittendrin-Sein“ zieht, finden
sicherlich reizvollere Gegenden in Berlin. Sofern sie denn eine
gewisse Ausdauer beim Suchen einer Unterkunft aufweisen oder
schlichtweg von der Muse geküsste Glückskinder sind. Für die eher
Ruhebedürftigen, und als ein solcher möchte ich mich ganz
unverhohlen preisgeben, bleibt Spandau derweil eine ernstzunehmende
Option. Außerdem können sie sich dieselbe Entspannung erlauben wie
sie auf dem Spandauer Wohnungsmarkt vorzufinden ist. Das
möglicherweise im Vergleich eingesparte Mietgeld fließt derweil in
diverse Sinnlosigkeiten, zu denen konsequenterweise auch Literatur
oder andere Künste zählen. Es klingt fast wie ein spießbürgerlicher
oder konservativer Traum, der sogleich durch Argument Nummer drei
infrage gestellt wird: „Die Leute wählen da so komisch“. Eine
Aussage, die mir unabhängig vom Inhalt erst einmal aufgrund ihrer
Merkwürdigkeit oder Originalität gefällt. Es wäre zu einfach,
daraufhin zu entgegen, dass dies aus der umgekehrten Perspektive
ebenso auf den Aussagenden zutreffen würde, dass er der
„Falschwähler“ sei. Nein, so bequem möchte ich mir das Ganze
nicht machen. Für eine bestimmte Art der Bequemlichkeit steht es
schließlich schon genug, wenn Menschen, die sich selbst als
politisch aktiv bezeichnen, solche Aussagen tätigen. Ich strebe doch
zumindest ein wenig gen Veränderung, bin also ungewollt auf einmal
eben das: politisch aktiv. In dieser Funktion frage ich ohne
Umschweife: Was ist das für ein Politik- und
Gesellschaftsverständnis bei denen, die nur unter ihresgleichen
bleiben wollen? Politik, die nicht auf öffentliches Verändern,
nicht auf das Gemeinwesen aus ist - Das ist nach Wortherkunft gar
keine Politik. Was ist es dann? Ein Drängen ins Individuelle, in die
Welt persönlichen Wunschdenkens. Also doch raus aus dem „Mittendrin“
ins „Ruhige“, das eben rein äußerlich etwas lauter daherkommt?
Getarnter Biedermeier? In jedem Fall ein gewisser Realitätsverlust
bezogen auf die mögliche Welt außerhalb des eigenen Milieus. Löst
der „Kiezschmerz“ gar den weitläufigeren Weltschmerz ab?
Ich muss mich geradezu selbst abhalten davon, in diesem Fatalismus zu
versinken. Stattdessen stellt sich doch intensiver denn je der
mögliche Sinn eines solchen Beitrags infrage, weshalb ich aus
praktischen Beweggründen nun noch eine potentiell erbauende Nutzung
der Umgebung „Spandau“ zu konstruieren versuche.
Die Möglichkeit eines Lebens auf der Grenze, nicht nur geographisch,
sondern in einem mehr psychischen oder weltanschaulichen Sinne. Dass
man überhaupt derartig zu gewissen Unterscheidungen fähig sein
könnte, anstatt im Unendlichen zu vergehen, wo nichts mehr
tatsächlich außergewöhnlich erscheinen kann ohne jeden
Bezugspunkt. In Spandau hingegen existiert die äußere Welt, die
andere Welt, nebenher. Wenn man hinausschaut aus seiner Kammer sieht
man nicht bloß seinesgleichen oder Menschen, die in das Leben
seinesgleichen passen, sondern gerade auch die Menschen, die man
verabscheuen kann. Die Menschen, zu denen man innerlich Distanz
aufbauen kann. Menschen, auf die man sich beziehen kann, indem man
ihre Lebensweise zwar ablehnt, aber als vorhanden anerkennt. Darauf
aufbauend gerade erst die eigenen, welchem Themenbereich auch immer
zuordenbaren, Vorstellungen schärft. Sich seiner Selbst deutlicher
und konturierter bewusst wird. Darin liegt doch gerade eine Bedeutung
des Üblichen, Langweiligen, Kleinbürgerlichen. Zum Demonstrieren
braucht man gar nicht mehr hinauszufahren, tut man es doch innerlich
täglich. Nebenbei lässt sich noch mit etwas Muße am eigens
aufgebauten Freund-Feind-Schema stellenweise rütteln, wenn es
plötzlich menschelt zwischen einem selbst und den „einfachen“
Leuten, welche eigentlich die „Anderen“ sind. Durchaus bestünde
manchmal die Gefahr, sich in diesem Pragmatismus zu verlieren. Hier
schafft das Bild der Grenze Abhilfe, bietet es doch die Möglichkeit
wieder in ein anderes Gebilde überzuwechseln, mitunter fließend.
Wenn jemand darüber witzelt, dass man Student sei, weil in seiner
sozialen Umgebung so etwas nicht vorkommt, bleibt neben dem
Innehalten und Erkennen der eigenen besonderen Stellung auch das
situative Überwechseln zu seinesgleichen. Es mag durchaus merkwürdig
anmuten, gewissermaßen in beiden Welten nur vorübergehend und nie
dauerhaft zu sein. Möglicherweise unterscheidet man sich in diesem
Punkt aber auch gerade von einer Art der Zeitlosigkeit, bei der
freilich nicht mehr vonstatten geht als ein einziges Schweben im
Raume. Ohne, dass man auch nur die Richtungen kennen würde, die man
von Zeit zu Zeit einschlägt.
Um ein einziges Mal versöhnlich und nicht geheimnisumwoben zu
wirken: Lange lässt sich kein Zustand aushalten. Egal wie
abwechslungsreich er daherkommt und wie wenig man ihn als solchen
erkennt. Nach gewissen Zeitspannen braucht es Veränderungen gegen
den Wahnsinn. Der herrscht in ganz Berlin. Der macht die Stadt
gewissermaßen überhaupt erst interessant genug, um über sie
nachzudenken. Schlagartig wird mir bewusst, wie sehr ich
„Zugezogener“ noch am Anfang stehe von alldem. Wie viel weiteres
Nicht-Verstehen nötig sein wird, um nur irgendetwas zu begreifen!
Was wird es bringen? Möglicherweise nichts. Ich werde mehr obskure
Annäherungen vollziehen müssen für die Möglichkeit einer
aufgeklärteren Anonymität innerhalb Berlins.