Freitag, 12. Dezember 2014

Spandau. Oder: Berlin auf der Grenze


Noch lebe ich nicht lange genug in Spandau, um irgendetwas tatsächlich im Detail und ganz genau kennen zu können. Eine Einteilung von Menschen fällt sowieso schwer, wenn man es denn überhaupt mit sich selbst vereinbaren kann, eine solche vorzunehmen. Ungleich schwerer ist es, wenn man allzu viele Menschen oder zumindest ihre Lebensumstände gar nicht einzuordnen weiß. Ein wenig bin ich dazu gezwungen, doch im Grunde werde ich nachfolgend freiwillig etwas schreiben über den Stadtteil, der sich in der Lokalzeitung selbst „Havelstadt“ nennt. Einerseits gerne als richtiger Berliner Stadtteil wahrgenommen werden würde, andererseits seine besondere Stellung nicht oft genug betonen kann. Womöglich ein Ort, an dem die Metropole übergeht in das eher Provinzielle. Eben ein Stadtteil auf der Grenze oder gar, wenn man es auf die bundesdeutschen Begebenheiten überträgt, das „Bayern Berlins“. Die vorangegangen Sätze samt den etwas im Dunkel tappenden ersten Worten mögen als Verdeutlichung meines Anliegens hier dienen. Es soll durchaus ein Hauch von Humor mitschwingen. Jedenfalls in dem Sinne, dass die Ausdrücke und Argumente zur Übertreibung geneigt werden. Ein bisschen Verballhornung des Milieu- bzw. Kiezpatrotismus aus Sicht eines eher Außenstehenden, der ich noch, aber auch nicht in Gänze, bin. Deswegen dieses verfrühte Schreiben, just in dem Moment, da das Einleben noch gar nicht zum Abschluss gekommen ist. Ob es so etwas wie ein komplettes Einleben überhaupt geben kann, ob es überhaupt wünschenswert wäre? Dahingehend rege ich zum eigenen Nachdenken an. Überhaupt richten sich all meine Überlegungen an Leute, die der Reflexion (und damit des Schmerzes) willig sind. Die Adressierung einer imaginären Studierendenschaft wird sich an mancher Stelle allzu übermäßig zwischen den Zeilen bewegen. Doch auch oder gerade Nicht-Jünglinge und Nicht-Jung-Bleiben-Wollende lade ich herzlich zur Lektüre ein, sofern sie nicht bereits von eben dieser meiner jugendlichen Arroganz angeekelt, nur noch ihre Köpfe wunderlich hin und her schwenken.

Gegen gewisse Fragen jedenfalls kann man sich nicht wehren, außer man ist dazu befähigt, konsequent ignorant zu sein und das nicht nur scheinbar. Diese seltene Begabung fehlt mir, was es auch nicht weiter zu bedauern gilt. Eine dieser Fragen und sie könnte auch in dem, was damit hintergründig gemeint ist, der vorherigen Red Bull-Frage gleichkommen: Warum Spandau?
Alleine schon diese Art von Reaktion auf meinen bloßen vorübergehenden Wohnort an sich zwingt mich zur Gegenreaktion. Die nachfolgende Argumentation verlangt analog dazu bereits ein ausgefeilteres Kontern. Dabei tauchen vor allem drei Argumente vermehrt auf, selbstredend in schwächerer oder stärkerer Form.
Zunächst ein mühelos von der Hand zu weisender Einwand basierend auf dem Fakt, dass Spandau innerhalb Berlins nicht gerade zentral gelegen ist. Daraus entstünden, so die jeweiligen Redner, unüberwindbare Nachteile. Selbst wenn man Zentrumsnähe aus durchaus plausiblen Gründen wie etwa der spielerischen Erreichbarkeit der Humboldt-Universität als erstrebenswert erachtet, ergibt sich höchstens ein räumliches, aber in der Regel kein gravierendes zeitliches Problem. Erst recht nicht im Vergleich zu eben räumlich zentrumsnäheren Gebieten. Die Fahrzeiten gestalten sich, etwa bis zum Hauptbahnhof, mit dem Regionalverkehr und selbst mit der S-Bahn menschenwürdig. Man möge es selbst nachprüfen. Nach Kreuzberg braucht es zugegebenerweise etwas länger. Aber da nehme ich bereits das zweite Argument vorweg, dessen Beantwortung sich interessanter ausnimmt. In Spandau sei ja „nichts los“, sagt man mir. Ja, entgegne ich voller Gleichgültigkeit. Will man denn, dass „etwas los“ sei? Anders gefragt: Will man denn ständig in Kreuzberg sein? Wer darauf ohne zu Zögern schallend mit „Ja!“ antwortet, den versuche ich gar nicht weiter zu überzeugen. Derjenige hat seinen Platz in der Welt gefunden, was in mir ein wenig Neid, aber der Endgültigkeit wegen auch etwas Misstrauen verursacht. Alle anderen möchte ich hingegen kurz auf den Gewinn einer möglichen Entscheidungsfreiheit hinweisen, die mit dem Sich-Niederlassen in Spandau einhergeht. Man steht plötzlich vor der Wahl, wann man „mittendrin“ sein möchte, in dem Bereich, wo „was los“ ist und wann man in der Ruhe verweilen möchte ohne drohendes Ungemach. Die Ruhe umfasst auch, abends auf die Straße zu gehen, ohne das man dort eben jemanden treffe, der den eigenen schwachen Charakter ins „Mittendrin“ locken könnte. Stattdessen lässt sich beispielsweise der seit drei Tagen zerschellt im Zentrum des Stadtteils herumstehende Sportwagen betrachten oder eben vereinzelte Gestalten, die entnervt ihren Hund an der Leine herumzerren. Man muss allerdings auch nochmals in Untergruppen zerteilen an dieser Stelle. Diejenigen, die es eher zum „Mittendrin-Sein“ zieht, finden sicherlich reizvollere Gegenden in Berlin. Sofern sie denn eine gewisse Ausdauer beim Suchen einer Unterkunft aufweisen oder schlichtweg von der Muse geküsste Glückskinder sind. Für die eher Ruhebedürftigen, und als ein solcher möchte ich mich ganz unverhohlen preisgeben, bleibt Spandau derweil eine ernstzunehmende Option. Außerdem können sie sich dieselbe Entspannung erlauben wie sie auf dem Spandauer Wohnungsmarkt vorzufinden ist. Das möglicherweise im Vergleich eingesparte Mietgeld fließt derweil in diverse Sinnlosigkeiten, zu denen konsequenterweise auch Literatur oder andere Künste zählen. Es klingt fast wie ein spießbürgerlicher oder konservativer Traum, der sogleich durch Argument Nummer drei infrage gestellt wird: „Die Leute wählen da so komisch“. Eine Aussage, die mir unabhängig vom Inhalt erst einmal aufgrund ihrer Merkwürdigkeit oder Originalität gefällt. Es wäre zu einfach, daraufhin zu entgegen, dass dies aus der umgekehrten Perspektive ebenso auf den Aussagenden zutreffen würde, dass er der „Falschwähler“ sei. Nein, so bequem möchte ich mir das Ganze nicht machen. Für eine bestimmte Art der Bequemlichkeit steht es schließlich schon genug, wenn Menschen, die sich selbst als politisch aktiv bezeichnen, solche Aussagen tätigen. Ich strebe doch zumindest ein wenig gen Veränderung, bin also ungewollt auf einmal eben das: politisch aktiv. In dieser Funktion frage ich ohne Umschweife: Was ist das für ein Politik- und Gesellschaftsverständnis bei denen, die nur unter ihresgleichen bleiben wollen? Politik, die nicht auf öffentliches Verändern, nicht auf das Gemeinwesen aus ist - Das ist nach Wortherkunft gar keine Politik. Was ist es dann? Ein Drängen ins Individuelle, in die Welt persönlichen Wunschdenkens. Also doch raus aus dem „Mittendrin“ ins „Ruhige“, das eben rein äußerlich etwas lauter daherkommt? Getarnter Biedermeier? In jedem Fall ein gewisser Realitätsverlust bezogen auf die mögliche Welt außerhalb des eigenen Milieus. Löst der „Kiezschmerz“ gar den weitläufigeren Weltschmerz ab?

Ich muss mich geradezu selbst abhalten davon, in diesem Fatalismus zu versinken. Stattdessen stellt sich doch intensiver denn je der mögliche Sinn eines solchen Beitrags infrage, weshalb ich aus praktischen Beweggründen nun noch eine potentiell erbauende Nutzung der Umgebung „Spandau“ zu konstruieren versuche.
Die Möglichkeit eines Lebens auf der Grenze, nicht nur geographisch, sondern in einem mehr psychischen oder weltanschaulichen Sinne. Dass man überhaupt derartig zu gewissen Unterscheidungen fähig sein könnte, anstatt im Unendlichen zu vergehen, wo nichts mehr tatsächlich außergewöhnlich erscheinen kann ohne jeden Bezugspunkt. In Spandau hingegen existiert die äußere Welt, die andere Welt, nebenher. Wenn man hinausschaut aus seiner Kammer sieht man nicht bloß seinesgleichen oder Menschen, die in das Leben seinesgleichen passen, sondern gerade auch die Menschen, die man verabscheuen kann. Die Menschen, zu denen man innerlich Distanz aufbauen kann. Menschen, auf die man sich beziehen kann, indem man ihre Lebensweise zwar ablehnt, aber als vorhanden anerkennt. Darauf aufbauend gerade erst die eigenen, welchem Themenbereich auch immer zuordenbaren, Vorstellungen schärft. Sich seiner Selbst deutlicher und konturierter bewusst wird. Darin liegt doch gerade eine Bedeutung des Üblichen, Langweiligen, Kleinbürgerlichen. Zum Demonstrieren braucht man gar nicht mehr hinauszufahren, tut man es doch innerlich täglich. Nebenbei lässt sich noch mit etwas Muße am eigens aufgebauten Freund-Feind-Schema stellenweise rütteln, wenn es plötzlich menschelt zwischen einem selbst und den „einfachen“ Leuten, welche eigentlich die „Anderen“ sind. Durchaus bestünde manchmal die Gefahr, sich in diesem Pragmatismus zu verlieren. Hier schafft das Bild der Grenze Abhilfe, bietet es doch die Möglichkeit wieder in ein anderes Gebilde überzuwechseln, mitunter fließend. Wenn jemand darüber witzelt, dass man Student sei, weil in seiner sozialen Umgebung so etwas nicht vorkommt, bleibt neben dem Innehalten und Erkennen der eigenen besonderen Stellung auch das situative Überwechseln zu seinesgleichen. Es mag durchaus merkwürdig anmuten, gewissermaßen in beiden Welten nur vorübergehend und nie dauerhaft zu sein. Möglicherweise unterscheidet man sich in diesem Punkt aber auch gerade von einer Art der Zeitlosigkeit, bei der freilich nicht mehr vonstatten geht als ein einziges Schweben im Raume. Ohne, dass man auch nur die Richtungen kennen würde, die man von Zeit zu Zeit einschlägt.

Um ein einziges Mal versöhnlich und nicht geheimnisumwoben zu wirken: Lange lässt sich kein Zustand aushalten. Egal wie abwechslungsreich er daherkommt und wie wenig man ihn als solchen erkennt. Nach gewissen Zeitspannen braucht es Veränderungen gegen den Wahnsinn. Der herrscht in ganz Berlin. Der macht die Stadt gewissermaßen überhaupt erst interessant genug, um über sie nachzudenken. Schlagartig wird mir bewusst, wie sehr ich „Zugezogener“ noch am Anfang stehe von alldem. Wie viel weiteres Nicht-Verstehen nötig sein wird, um nur irgendetwas zu begreifen! Was wird es bringen? Möglicherweise nichts. Ich werde mehr obskure Annäherungen vollziehen müssen für die Möglichkeit einer aufgeklärteren Anonymität innerhalb Berlins.

Dienstag, 9. Dezember 2014

Warum RB? - Eine Annäherung an die Unnahbaren.

Zum ersten Mal begegnet mir in Leipzig das Wort „Kommerz“ auf dem Weihnachtsmarkt. Beiläufig höre ich es eine Frau mittleren Alters aussprechen. Weder wirkt sie besonders zornig noch resignierend. Eben so wie in einem nichtssagenden Gespräch die Dinge zu klingen haben. Es ist das einzige Wort, was ich aus ihrem Mund vernehme. Für alles andere bleibt das Aufeinandertreffen zu flüchtig. Manch einer mag dieser Tage dazu verleitet sein, die ganze Stadt mit diesem einen Wort gleichzusetzen. Die mitschwingende Konnotation ist offensichtlich. Warum RB?

Ich stamme doch aus einem der anderen Lager, in die man gemeinhin die Fußballwelt teilt. Sankt Pauli – Tradition, Stimmung und noch mehr leichtfertig gebrauchte Begrifflichkeiten. Aber eben dieser Tage kein besonderer Fußball, ja: einfach eine minderwertige Form des geliebten Sports. Fast möchte ich sagen: Ein Affront gegen das Gute und Schöne des Spiels. Doch nicht noch mehr Worte, deren Hintergrund zu groß ist, um sie überhaupt zu gebrauchen. Am 23. November 2014 beeindruckt mich RasenBallsport Leipzig in der Kategorie, nach der man sie allzu selten betrachten möchte: sportlich. Wenn eine neue Pressingwelle die starren Strukturen im Aufbauspiel von St.Pauli gleichzeitig locker und intensiv aufbricht, applaudiere ich innerlich. Fast eine Träne verdrückend, warum sich das denn nicht andersherum abspielen könne. Während RB wie ein intellektualistisches Konstrukt wirkt, das man mögen, aber nicht lieben kann, das gewissermaßen leer bleibt, ist St. Pauli das genaue Gegenteil, nämlich eine rein emotionale Angelegenheit voller Liebe, aber mit geringsten Möglichkeiten, rational zu gefallen. RB ist der Handelnde, St. Pauli der Verhaltene, der nur noch auf dem bereits Vorhandenen kniet, wo der andere bereits zweckdienlich Neues vorantreibt. Tradition, möchte man meinen, ist konservativ, wenn nicht gar reaktionär. Am besten solle etwas doch wieder so werden, wie es nie gewesen ist, wäre die überspitzte Formulierung. Aber auch sog. „Linke“ neigen eben zu einem gewissen Konservatismus, beispielsweise wenn sie wörtlich bei Marx verharren, statt ihn als vielfach widerlegten Ausgangspunkt aktueller Kritik zu gebrauchen. Die Abwesenheit von traditionellen Denkweisen ist nicht mit Geschichtsvergessenheit gleichzusetzen. Übertragen auf den konkreten Sachverhalt heißt das: RB ist ein Produkt der Entwicklung des Fußballs, auf die mit diesem Projekt reagiert wird. Ohne geschichtlichen Bezug wäre dies schlicht unmöglich. Etwas, das hingegen als reine Tradition fortbestehen will, generiert keinerlei Fortschritt und danach, ganz gleich wie sehr wir uns das eingestehen möchten, trachtet doch jeder Fußballverein gewissermaßen. Wenn man besser sein will als die Konkurrenz, muss man in irgendeinem Bereich einfach innovativer beziehungsweise anders vorgehen als eben diese. Fußball ist, nicht nur der gigantischen Vermarktungsmaschinerie wegen, gelebte Marktwirtschaft. Da hilft, taktisch gesprochen, kein passives Verharren auf dem Dogma des 4-4-2. Neue Wege müssen eingeschlagen, andere Spielphilosophien erprobt werden. Dass man dabei scheitern kann und zwischenzeitlich ganz sicher verzweifeln wird, ist unvermeidbar. Doch im Gegensatz zum bloß traditionell-unreflektierten Weitermachen schlüpft man in die Rolle eines Handelnden, der zumindest die Möglichkeit dazu hat, es besser zu machen und sich abzusetzen. Das ein eher genereller Exkurs gegen das Gespenst der reinen Tradition, das im Fußball nur allzu gerne umgeht. Wer sich mit diesen Prinzipien des Geschäftes Fußball nicht abfinden will, solle sich abwenden. So gerne ich kritisiere: Es ist mir nie gelungen. Es wird mir nicht gelingen. Es gibt da keine systematischen Unterschiede zwischen den Vereinen. Die einen sind erfolgreicher und werden es auch bleiben, wenn sie ihre Vorteile nicht allzu leichtfertig entäußern. Die anderen sind weniger erfolgreich und werden es tendenziell ebenso bleiben, wenn sie es nicht schaffen, sich gewisse Vorteile zumindest kurzfristig zu erarbeiten. Gemessen werden sie alle trotzdem auf einer gleichen Skala. Nur weil ich Anhänger des FC St. Pauli bin, bin ich weder ein moralischeres Wesen als der Stadiongänger von RB Leipzig noch als derjenige von Bayern München. Trotzdem käme niemals ein anderer Verein als wirklicher Ersatz infrage. Das liegt einfach an jenem emotionalen Faktor. Daran, dass ich mich im Millerntorstadion ein wenig wie zu Hause fühle. Aber auch am bloßen Zufall, zu einer gewissen Zeit an dem und dem Ort gewesen zu sein oder die und die Leute getroffen zu haben. Trotzdem sollte ich nicht davon abgehalten sein, einen anderen Verein und vor allem dessen Spielweise zu mögen und wertzuschätzen. Meine emotionale Bindung gebe ich ja durch diese rationalere Beziehung keineswegs auf. Natürlich wird auch da ein gewisses emotionales Moment manchmal unvermeidbar, doch wird es jenes der Bindung niemals überbieten können. Wenn beispielsweise eine Mannschaft Pep Guardiolas gegen St. Pauli spielen würde, würde ich ihm trotz meiner ehrlichen Bewunderung nichts als eine Niederlage wünschen und sie herbeisehnen. Vermutlich könnte ich gar beten, ohne dass es etwas bringen würde.

Zurück in Leipzig ist es selbst nach einem Spaziergang durch die Stadt mit ihrer allgemein anerkannten Ansehnlichkeit noch zu früh, um direkt zur Red Bull Arena zu schreiten. Deswegen gehe ich noch etwas weiter die Hauptstraße hinunter, Richtung Trainingszentrum. Der Jugendleiter meines Vereins bekam einmal die Gelegenheit, es zu besichtigen. Danach sprach er sinngemäß von einem „Himmel“ für Jugendspieler. Ein Himmel im Aufbau wie sich mir schnell offenbart, als ich die äußerliche Fassade auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblicke. Die Baustellenfahrzeuge stehen nur still, weil heute Sonntag ist. Die Trainingsplätze hingegen glänzen bereits und deuten an, wie eines Tages erst der tatsächliche Gebäudekomplex erstrahlen wird. Schreie, die nur von einem Fußballspiel oder -training stammen können, werden vernehmbar. Sie kommen nicht von RB Leipzig. Deren heute nicht besonders zahlreichen Nachwuchsspieler laufen lautlos über den Sportplatz. An ihn grenzt ein weiteres Gelände, das nicht dem Konsortium gehört, sondern den Amateuren vom BSV Schönau 1983. Was sie vom Projekt RB Leipzig halten, weiß ich nicht. Ich frage auch nicht nach, sondern schaue mir die letzten Minuten eines schätzungsweise C-Jugend-Spiels an. Ihr Trainer brüllt unnachgiebig, meist eher sinnlos („Geh doch mal rauf da!“). Trotzdem werde ich Zeuge eines historischen Moments, als der Spieler mit der Nummer 10 den Ball aus spitzem Winkel, etwa 20 Meter vom Tor entfernt, in den Winkel befördert und niemand, sofern er auch nur das entfernteste mit dem BSV Schönau 1983 zu tun hat, sich der Begeisterung und den Jubelschreien entziehen kann. Gerne wäre auch ich auf das Feld gelaufen und hätte mitgefeiert. Aber nach nur zwei Minuten des Zuschauens wollte ich mich dann doch nicht zum Erfolgsfan machen lassen.

Schließlich lande ich, gestärkt von diesem kleinen Zwischenspiel, doch noch in der Red Bull Arena, die bis auf die zwei, drei übergroßen Markenlogos gar nicht so sehr danach aussieht. Zumal drumherum noch geschichtsträchtige Überreste an die Zeiten des alten Zentralstadions erinnern. Diese WM-Arena, so halte ich es für mich ohne Umschweife fest, ist bundesligatauglich. Wenn man die Bundesligatauglichkeit eines gesamten Vereins daran festmachen wollen würde, so hätte er die Kriterien problemlos erfüllt, im Gegensatz etwa zum SC Paderborn 07 oder zum heutigen Gast, dem FC Ingolstadt 04. Wenn die Sache nur so einfach wäre. Mir fällt die Ruhe dieses Stadiongeländes unvermittelt auf. Kenne ich das normalerweise nicht lauter? Zugegeben: Bis zum Anpfiff dauert es noch eine gute Stunde, die ich beginne mit Currywurst (im Vergleich zu anderen Stadien sehr gut und reichhaltig, das will ich nicht unterschlagen) und Red Bull (Welch Wunder – günstiger als in anderen Stadien, aber immer noch teuer) zu überbrücken. Währenddessen erlaube ich mir die Frage, die sich die ganze Zeit schon stellt, wieder ein wenig anders zu beantworten. Die ruhige Atmosphäre hilft dabei, ohne Zweifel. Es ist, wenn ich ein bisschen übertreiben darf, ein fast schon literarisches Motiv, das mich neben dem Interesse am Fußball und seinen Begleiterscheinungen hierher zieht. An einem Ort zu sein, an dem man lediglich Gast ist und es zeit seines Aufenthalts bleibt. Wo die Gefahr, wirklich fremd zu werden, nicht bestehen kann, da man ohnehin nicht wirklich wahrgenommen wird. Kurzum: Ein wenig wohltuende tatsächliche Anonymität gegen das Alltägliche, das zwar auch oftmals anonym ist, aber eben auf eine andere Art. RB allerdings ist kein Gast. RB ist ein Fremdkörper. Egal wie sehr sich der Verein bemühen wird, egal wie viel er besser macht als manch anderer, wie viel er vielleicht auch an sich selbst verändert: Er wird kurz- bis mittelfristig niemals ein intimer Teil der Bundesligafamilie sein, die sich eben doch nicht nur aus formaler Ligazugehörigkeit ableitet. Um in diesem Themenkomplex zu bleiben: RB haftet gleichfalls etwas Kosmopolitisches an mit Schwestervereinen in Salzburg und New York. Nicht dass die anderen Vereine etwas Vegleichbares nicht hätten. Auch sie schließen gerne Kooperationsverträge ab oder eröffnen Büros in New York. Doch bei RB ist dieses Prinzip auf den Kopf gestellt. Dem Zusammenschluss ist keine Entwicklung vorausgegangen, aus der diese Entscheidung folgte, sondern es verhält sich genau gegenteilig. Anders formuliert: RasenBallsport Leipzig braucht die Bundesligafamilie womöglich gar nicht, weil der Verein seine eigene Familie im Rücken hat. Diese ist, das wissen wir alle, vor allem abhängig von einem Geldgeber, dessen Hauptberuf früher einmal Brause gewesen ist. Heute scheint es Extrem- und Erlebnis- und überhaupt Sport zu sein, vor allem die Vermarktung dessen. Schließt sich da nicht auf ironische und ausufernde Weise der Kreis zu den englischen Teams des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die von Bierbrauern gegründet und finanziert wurden? Dass Red Bull den Leipziger Verein zu Marketingzwecken benutzt, liegt auf der Hand. Dass das Unternehmen Erfolge voraussetzt ebenfalls. Mittlerweile ist das Projekt in einem Stadium angelangt, wo letzteres in greifbare Nähe gerückt zu sein scheint, so dass ein wirkliches Scheitern und somit auch ein plötzliches Abspringen des Investors unwahrscheinlich wirkt, wenn auch nicht völlig unmöglich. Aber noch mal: Auch andere Vereine sind enorm abhängig von Geldgebern, auch von einzelnen, namentlich den Hauptsponsoren. Diese streben genauso ein öffentlichkeitswirksames Marketing an. Ihnen gelingt genauso gut eine unterschwellige Manipulation. Wie anders lässt es sich erklären, dass mich zum Beispiel eine Werbung der DBV-Winterthur, die an einem S-Bahnhof in Berlin hängt, schlagartig zur Aufmerksamkeit zwingt, obwohl das Unternehmen bereits seit einigen Jahren nicht mehr Hauptsponsor des Bundesligisten 1. FSV Mainz 05 ist? Die DBV-Winterthur war mir im Gegensatz zu Red Bull vor dem Engagement im Fußball nicht bekannt. Der Effekt scheint also noch um einiges größer gewesen zu sein. Nun ja: Durch die Unbekanntheit ist das Potential in diverse, auch negative, Richtungen nahezu unbegrenzt. Trotzdem kann ein Partnerschaft für den österreichischen Konzern ebenso positive Effekte erzielen, sonst wäre es betriebswirtschaftlicher Unsinn und diese Kategorie ist bekanntlich nicht ganz unwichtig in derlei Zusammenhängen. Um das Maximum herauszuholen, geht man dann prinzipiell die gleichen Wege wie andere, aber man reizt sie aus, muss dies praktisch tun, kann es aber auch. So lange es keine absolute Grenze gibt. Ich jedenfalls sehe diese nicht, wenngleich definitiv ein paar sinnvolle Regularien bestehen, die milliardenschwer jedoch nicht das Hindernis darstellen, was ursprünglich wohl einmal angedacht war.

Als ich den beiden Mannschaften etwas gedankenverloren beim Aufwärmen zuschaue, erheben sich wie aus dem Nichts einige Gesänge aus dem südlichen Bereich des Stadions, der nun nahezu gänzlich voll zu sein scheint. Um mich herum sitzen auf einmal genug Leute, um die Tribüne mit etwas Leben zu füllen. Sogar Fahnen schwenken sie drüben. Die Ruhe hat ein Ende, auch wenn eine gewisse Dämpfung bleibt. Besonders einfallsreich sind die meisten Gesangseinlagen zugegeben nicht: „Gebt mir ein R, gebt mir ein B, gebt mir ein L...RBL...“. Immerhin werden sie das ganze Spiel über durchgehalten, mal leiser, mal lauter. Manchmal von allen besetzten Tribünen aus gleichzeitig. Sogar Humor beweisen die Singenden, das darf nicht unerwähnt bleiben: „Wir sind Schweine, Rote-Bullen-Schweine, zahlen keinen Eintritt...“. Von 44.345 Plätzen bleiben etwa 20.000 leer, was nicht nur an den Leipzigern, sondern in fast gleichem Maße an den Ingolstädtern liegt, die irgendwo auf einem Oberrang mit knappen hundert Leuten stehen und ein kleines Fähnchen schwingen. Manchmal meint man ein für die Anzahl der Leute doch ziemlich lautes „Spitzenreiter! Spitzenreiter!“ herauszuhören. So etwa nach dem Führungstreffer, der auch das einzige Tor des Tages bleiben wird. Ja, auch das hochgelobte rationale Pressing kann Fußballspiele zerstören, wenn beide Mannschaften es extrem auszuüben wissen, aber keine entsprechenden Reaktionen im Spielaufbau zeigen können außer langer Bälle. Gerade in der ersten Halbzeit wirkt Ingolstadt noch etwas konsequenter im Druckaufbau oder Leipzigs Spielaufbau ist einfach schwächer. Je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet. Alexander Zorniger jedenfalls, der Cheftrainer von RB, hat die Probleme bei eigenem Ballbesitz unlängst aufgegriffen, wie er im Interview mit der FAZ vom 07.12.2014 anklingen lässt. Wenn sie auch das noch lernen, es könnte beängstigend ansehnlicher Fußball werden. Noch schleichen sich im konkreten Spiel jede Menge überemotionaler Momente ein, die das Geschehen bekanntlich genauso in Richtung Destruktion treiben können. Verletzungen und Diskussionen sind die Folge. Vor allem aber die Einsicht, dass es bei RB keine grundlegend andere, das heißt: keine fairere, Fankultur gibt. Das Publikum beschimpft den Schiedsrichter so laut es nur kann, pfeift, als sei dies eine Genugtuung und der junge Mann, nur situativ unsicher und selten wirklich fehlerhaft, kann dem neutralen Betrachter regelrecht leidtun. Ob sie sich nun aufregen aus einer wirklichen Emotionalität heraus oder weil es Konvetion in Fußballstadien ist, vermag ich nicht zu beantworten. Ich werde aber das Gefühl nicht los, dass zu vieles in diesen Belangen einfach die bestehenden Strukturen zum Vorbild hat und man sich kaum traut, einen tatsächlich anderen Weg einzuschlagen. Obwohl man die Freiheit dazu allemal hätte und sie sich nehmen könnte, da man ohnehin wenn nicht gehasst, dann zumindest kritisch beäugt wird. Warum nicht zeigen, dass der Fortschritt zu einem humaneren Fußball trotz Red Bull möglich ist? Das sind Träumereien, ich gebe es zu. Für mich bleibt vorerst das Bild eines Vereins, der die Dinge in den meisten Belangen oberflächlich betrachtet ähnlich angeht wie der Rest der Branche – in der (taktischen) Spielerausbildung beispielsweise aber einfach den Mut und die Mittel hat, etwas konsequenter zu agieren, im Bereich der sich gerade erst formierenden Fanszene den anderen aber weiterhin hinterherlaufen wird, wenn dort nicht auch ein wenig Drang zur (geistigen) Innovation Einzug hält.
Vor dem Verlassen der Stadt begegne ich noch vier Jungen, die lauthals und immer wieder „RBL!“ skandieren. Eine junge Dame schaut, als sie vorbeigezogen sind, fragend zu ihrem Freund hinüber: „Wie dumm sind die denn?“

In mir bleibt der häufig genug thematisierte Zwiespalt zwischen der Emotion und der Rationalität zurück. Desillusionierung mit vereinzelten romantischen oder wenigstens anerkennenden Augenblicken. Vieles ließe sich noch anfügen. Als Einstieg in eine ernsthafte Debatte, die weniger populistisch und ängstlich daherkommt, mag das bis hierhin Geschriebene hoffentlich dennoch dienen. Jedenfalls lohnt sich eine weitere Beobachtung von RB Leipzig allemal – interessant wird es so oder so. Ob nun früher oder später...