Es
ist eine krude Vorstellung von Realismus, welche die aktuelle
Berichterstattung zu Michel Houellebecqs jüngst
erschienenem Roman
„Unterwerfung“ prägt.
Eine merkwürdige Vorstellung von Literatur, eine unhaltbare. Fast
wirkt es so, als hätten einige Berichterstatter die Rolle des
Literaten missinterpretiert als die eines Hellsehers, der
er gewissermaßen auch ist auf menschlicher Ebene, auf Gefühlsebene,
aber ganz sicher nicht in Bezug auf eine tatsächlich-physische Welt
der Zukunft. Fraglich bleibt obendrein, wie viele derjenigen, die
Houellebecq beziehungsweise seinen Roman „islamophob“ schimpfen,
ihn überhaupt gelesen haben. Überhaupt diese Annahme von
Deckungsgleichheit zwischen literarischem Ich und der tatsächlichen
Einstellung des Schreibenden. Ein Mensch, der Teilen der Redaktion
von „Charlie Hebdo“ nahestand und -steht wird kaum ein
Islamhasser sein. Aber wahrscheinlich ein Amoralist, dem allzu vieles
allzu egal ist und den allzu vieles doch allzu sehr quält. Der
deswegen möglicherweise kein Vorbild ist, keines sein will. Einen
solchen Menschen und seine Werke darf man nicht reduzieren auf rein
inhaltliche Ausschnitte (Erst passiert das eine, dann das andere und
dann wieder etwas et cetera). Man muss ihn sich schon anhören. In
seinen eigenen Worten. Vor allem sollte man nachdenken, bevor man
eine gewisse Ablehnung formuliert, über die sich ein Autor oftmals
sogar freut im Gegensatz zu moralisch unfehlbaren
Journalisten.
Zitate aus „Unterwerfung“ in chronologischer Reihenfolge:
Zitate aus „Unterwerfung“ in chronologischer Reihenfolge:
„Allein die Literatur erlaubt uns, mit dem Geist eines Toten in
Verbindung zu treten, auf direkte, umfassendere und tiefere Weise,
als das selbst in einem Gespräch mit einem Freund möglich wäre –
denn so tief und dauerhaft eine Freundschaft sein mag, niemals
liefert man sich in einem Gespräch so restlos aus, wie man sich
einem leeren Blatt ausliefert, das sich an einen unbekannten
Empfänger richtet. Natürlich sind, wenn es um Literatur geht, die
Schönheit des Stils, die Musikalität der Sätze von Wichtigkeit.
Die Tiefe und die Originalität der Gedanken des Autors sind nicht
unwesentlich; aber ein Autor ist zuvorderst ein Mensch, der in seinen
Büchern gegenwärtig ist; ob er gut schreibt oder schlecht, ist
dabei zweitrangig, die Hauptsache ist, dass er schreibt und wirklich
in seinen Büchern präsent ist.“
„Nicht deprimiert, nein, irgendwie schlimmer, du hattest immer so
eine Art von anormaler Ehrlichkeit, eine Unfähigkeit, all die
Kompromisse einzugehen, die den Leuten letztlich erlauben zu leben.“
„Nach Myriams Fortgang blieb ich über eine Woche lang alleine. Das
erste Mal seit meiner Berufung fühlte ich mich nicht einmal
imstande, meine Mittwochskurse zu leiten. Die geistigen Höhepunkte
meines Lebens waren die Niederschrift meiner Dissertation und die
Veröffentlichung meines Buchs gewesen; all das lag mehr als zehn
Jahre zurück. Geistige Höhepunkte? Höhepunkte überhaupt?
Jedenfalls fühlte ich damals so etwas wie eine Existenzberechtigung.
Seitdem hatte ich nur kurze Beiträge für das Journal des
dix-neuvièmistes und, seltener, für das Magazine littéraire
verfasst, wenn etwas anlag, das meinem Fachgebiet entsprach. Meine
Beiträge waren klar, bissig, brillant, im Allgemeinen erfuhren sie
Wetschätzung, zumal ich stets pünktlich ablieferte. Aber genügte
das als Existenzberechtigung? Inwiefern braucht eine Existenz eine
Berechtigung? Sämtliche Tiere und der überwältigende Großteil der
Menschen existieren, ohne jemals das geringste Bedürfnis nach eine
Berechtigung zu verspüren. Sie leben, weil sie leben, und basta, das
ist ihre Denkweise, und sie sterben, weil sie sterben, nehme ich
weiter an, womit die Analyse in ihren Augen abgeschlossen ist.“
„Mir lag auf der Zunge, Lempereur zu fragen: 'Sind Sie eher Katholik, eher Faschist oder eine Mischung aus beidem?', aber ich hielt mich zurück, ich hatte lange nichts mit Rechtsintellektuellen zu tun gehabt und wusste nicht mehr, wie man sie anpacken musste.“
„Während die reichen Araberinnen tagsüber die undurchdringliche
schwarze Burka trugen, verwandelten sie sich abends in schillernde
Paradiesvögel: Mieder, transparente Bhs, Strings mit bunter Spitze
und Schmucksteinen, also genau das Gegenteil der westlichen Frauen,
die sich tagsüber sexy und elegant kleideten, weil ihr sozialer
Status auf dem Spiel stand, abends aber zusammensanken, in unförmige
Freizeitklamotten stiegen und beim Gedanken an Verführungsspielchen
müde abwinkten.“
„Irgendwann hatte ich keine Lust mehr und zappte mich durch
Doku-Soaps über Fettleibige, bevor ich endlich ganz ausschaltete.
Dass Politik in meinem Leben eine Rolle spielen könnte, verwirrte
und ekelte mich ein bisschen.“
„Überhaupt kannte ich wenig von Frankreich. Nach meiner Kindheit
und Jugend in Maisons-Lafitte, der bürgerlichen Vorstadt par
exellence, war ich nach Paris gegangen und immer dort geblieben. Nie
hatte ich dieses Land bereist, dessen Bürger ich war, wenn auch
bislang eher in der Theorie. Ich hatte es allerdings schon einmal
vorgehabt, wie der VW Touareg bewies, den ich zusammen mit den
Wanderschuhen gekauft hatte.“
„Manche Sonntage konnte ich glücklicherweise auch einfach
durchvögeln – meistens mit Myriam. Mein Leben wäre öde und
freudlos gewesen, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit mit ihr gevögelt
hätte.“
„Die Kassiererin entdeckte ich in einer Blutlache auf dem Boden,
sie hatte die Arme, um sich zu schützen, sinnlos vor die Brust
gepresst. Totale Stille. Ich ging zu den Zapfsäulen, aber sie
funktionierten nicht, vermutlich wurden sie von der Kasse aus
gesteuert. Ich lief zurück, steig widerwillig über die Leiche,
entdeckte aber nichts, was dazu dienen konnte, die Pumpen wieder in
Gang zu bringen. Nach kurzem Zögern nahm ich mir ein
Thunfisch-Sandwich mit Salat, ein alkoholfreies Bier und den
Michelin-Hotelführer aus dem Regal.“
„'Wissen Sie etwas über die Hintergründe dieser Aktionen?' 'Es
ist genau so, wie Sie es sich denken.' 'Die Identitären?' 'Zum
einen, ja. Auf der andere Seite junge Dschihadisten. Übrigens stehen
sich damit zwei zahlenmäßig in etwa gleich starke Gruppen
gegenüber.' 'Und sie glauben, dass die mit der Bruderschaft der
Muslime in Verbindung stehen?' 'Nein.' Er schüttelte entschieden den
Kopf.“
„Jetzt ist es an der Zeit für eine gütliche Einigung mit dem
Islam, Zeit für eine Allianz, wie ich meine.“
„Was mochte wohl jemand denken, der sein ganzes Leben lang die
verborgenen Zusammenhänge im Hintergrund erforscht hat?
Wahrscheinlich nichts. Und ich vermutete, dass er nicht einmal zur
Wahl ginge; er wusste einfach zu viel.“
„Die Betrachtung von Frauenärschen, dieser kleine träumerische
Trost, war ebenfalls unmöglich geworden. Es war also zweifelsohne
eine Veränderung im Gange, eine objektive Umwälzung hatte
eingesetzt. Zwar ließ auch mehrstündiges Zappen durch die
Kabelkanäle keine Rückschlüsse auf weitere Umbrüche zu, aber die
Erotiksendungen im Fernsehen waren ja schließlich schon seit Langem
aus der Mode.“
„Nur in sehr seltenen Fällen habe ich Escort-Dienste in Anspruch
genommen, meistens in den Sommermonaten, um gewissermaßen den
Übergang von einer Studentin zur nächsten zu überbrücken; alles
in allem wurde ich zufriedengestellt. Eine kurte Internetrecherche
zeigte mir, dass die neue islamische Regierung deren Betrieb in
keiner Weise beeinträchtigt hatte.“
„Trotzdem, das spürte ich genau, näherte ich mich dem Selbstmord,
ohne Verzweiflung oder auch nur eine besondere Traurigkeit zum
empfinden, sondern einfach nur deshalb, weil 'die Gesamtsumme der
Funktionen, die dem Tod widerstehen', wie Bichat es ausrückt,
langsam kleiner wurde. Der einfache Wille zu leben reichte mir
offenbar nicht mehr aus, um der Gesamtheit der Schmerzen und
Unannehmlichkeiten zu widerstehen, die das Leben eines
durchschnittlichen Westeuropäers begleiten. Ich war unfähig für
mich selbst zu leben, und für wen sonst hätte ich leben sollen? Die
Menschheit interessierte mich nicht, sie widerte mich sogar an. Ich
betrachtete die Menschen keineswegs als meine Brüder, und ich tat es
umso weniger, wenn ich einen kleineren Ausschnitt der Menschheit in
Augenschein nahm, so zum Beispiel denjenigen, der aus meinen
Landsleuten oder meinen ehemaligen Kollegen bestand. Dennoch musste
ich wohl anerkennen, dass diese Menschen mir unangenehm ähnelten,
dass sie meinesgleichen waren, auch wenn es gerade diese Ähnlichkeit
war, die mich dazu veranlasste, sie zu meiden.“
„Hier greift das berühmte Theorem des endlos tippenden Affen: Wie
lange müsste ein Schimpanse zufällig auf einer Schreibmaschine
herumtippen, um die Werke William Shakespeares entstehen zu lassen?
Wie lange würde ein blinder Zufall benötigen, um das Universum
wieder entstehen zu lassen? Ganz sicher deutlich mehr als fünfzehn
Milliarden Jahre!“
„Der Islam ist die einzige Religion, die in der Liturgie die
Verwendung von Übersetzungen verboten hat; weil der Koran
vollständig aus Rhythmen, Reimen, Refrains, Assonanzen besteht. Er
breuht auf der Idee, der Grundidee der Poesie, einer Einheit von
Klang und Sinn, die es ermöglicht die Welt zu erzählen.“
„[A]ber der ganze Artikel war ein einziger Aufruf an seine früheren traditionalistischen und identitären Freunde. Es sei tragisch, bekundete er leidenschaftlich, dass eine irrationale Feindseligkeit gegenüber dem Islam sie daran hindere, die folgende Gewissheit nicht zu erkennen: Sie seien in den wesentlichen Punkten im völligen Einklang mit den Moslems. Was die Ablehnung von Atheismus und Humanismus angehe, die notwendige Unterwerfung der Frau und die Rückkehr des Patriachats: Ihr Kampf sei in jeder Hinsicht derselbe. Und dieser Kampf, der für den Beginn der neuen Etappe einer organischen Kultur notwendig sei, sei heute nicht mehr im Namen des Christentums zu führen; es sei der Islam, die jüngere und wahrhaftigere Schwesterreligion“
„[W]omit Huysmans auch in diesem Punkt allen anderen Menschen
glich, denen ihr eigener Tod im Allgemeinen mehr oder minder
gleichgültig ist; ihre einzige wirkliche Sorge besteht darin, der
körperlichen Qual so weit wie möglich zu entkommen.“
„[I]m Moment fühlte ich mich nicht dazu in der Lage, auch nur einen einzigen der Umschläge zu öffnen; ich war zwei Wochen lang gewissermaßen in Sphären des Ideals befördert worden, hatte auf meinem bescheidenen Niveau etwas erschaffen; jetzt wieder meinen Status als gewöhnliches verwaltungstechnisches Subjekt anzunehmen, das erschien mir etwas hart.“